1. Vorbemerkungen
Viele Schulen in Deutschland weisen inzwischen in ihren Stundentafeln Formen bilingualen Unterrichtens aus, z. B. als bilinguale Module mit kürzeren Laufzeiten und Themenschwerpunkten oder bilinguale Züge, die z. T. mit einem Zertifikat abschließen.
Die Einrichtung eines bilingualen Unterrichtsangebots entspringt ganz wesentlich dem Bedürfnis nach Völkerverständigung, für welche u. a. die europäische Integration nach dem 2. Weltkrieg beispielhaft steht.
Hinzu kommen die neuen Herausforderungen der zunehmenden Globalisierung, die nicht nur Technologiekompetenz, sondern insbesondere auch die vom Europarat angemahnte individuelle Mehrsprachigkeit erfordern, um wirtschaftlich auf nationalen und internationalen Märkten wettbewerbsfähig zu sein. Hochschulen im In- und Ausland verlangen gleichermaßen verbesserte Eingangssprachkompetenzen für zielsprachige Studiengänge.
Unterricht in einer Fremdsprache wird daher immer mehr im frühen Kindesalter angeboten. Dies schafft Raum für den Erwerb mehrerer Fremdsprachen und für bilingualen Unterricht, in dem eine Fremdsprache sachbezogen verwendet wird.
Unter bilingualem Unterricht versteht man den Unterricht eines Sachfaches (z. B. Geschichte und/oder Gemeinschaftskunde oder Wirtschaftswissenschaften) in einer Fremdsprache (i. d. R. Englisch oder Französisch, weshalb man im anglo-amerikanischen Sprachkreis dafür den Begriff CLIL - Content and Language Integrated Learning verwendet) und der Basissprache.
Im bilingualen Unterricht wird die Zielsprache als Arbeits- und Unterrichtssprache eingesetzt, das Lernen der Zielsprache wird zum Lernen in der Zielsprache.
2. Allgemeine Ziele der Ausbildung
Im berufsbildenden Schulwesen des Landes Baden-Württemberg wird die Bedeutung der Fremdsprachen im Zusammenhang mit beruflicher Handlungsfähigkeit in allen Bildungsplänen der relevanten Schultypen und –arten hervorgehoben. Zahlreiche Ausbildungsgänge setzen in verstärktem Maße umfassende Kenntnisse und die Anwendung einer Fremdsprache voraus, um geschäftliche und/oder fachspezifische Inhalte auf internationaler Ebene kommunizieren zu können. Die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen ist somit eine Schlüsselqualifikation, die im bilingualen Unterricht besonders gefördert wird.
Der bilinguale Unterricht orientiert sich in seiner Planung und Durchführung an den Zielsetzungen des Sachfachs und eröffnet durch den Einsatz einer Fremdsprache als Unterrichts- und Arbeitssprache wertvolle Chancen:
- Das Lernen einer Zielsprache wird intensiviert und gestaltet sich authentischer, da spontanes Sprachhandeln in sachbezogenen Kontexten im Mittelpunkt steht. Die Zielsprache wird funktionalisiert, d. h., sie erfüllt primär pragmatische Zwecke, da sie Arbeitssprache und nicht Unterrichtsgegenstand ist.
- Das Sachfach erfährt durch die Verwendung zielsprachlicher Materialien eine Erweiterung der Perspektiven, die die zukünftige Handlungskompetenz der Lerner in einem interkulturellen Kontext erhöht.
Lehrerinnen und Lehrer in Ausbildung, welche die Zusatzqualifikation für die Planung und Durchführung eines bilingualen Unterrichts erwerben möchten, müssen überdurchschnittliche Zielsprachenkenntnisse mitbringen und ein Studium im jeweiligen Sachfach (z. B. Geschichte und/oder Gemeinschaftskunde, Wirtschaftswissenschaften) nachweisen.
Das Ausbildungspapier für die „Zusatzqualifikation für den bilingualen Unterricht“ setzt die Vertrautheit mit dem Ausbildungspapier für die in Frage kommende Zielsprache sowie dem Ausbildungspapier des Sachfaches voraus. Es thematisiert die spezifischen didaktisch-methodischen Merkmale des bilingualen Unterrichts und definiert die Kompetenzen, die die Lehrerinnen und Lehrer in Ausbildung zusätzlich erwerben müssen. Zudem umreißt es die Grundlagen zur Planung und Durchführung bilingualen Unterrichts. Somit werden die Lehrerinnen und Lehrer in Ausbildung mit den Anforderungen an einen erfolgreichen bilingualen Unterricht im Sachfach auf der Grundlage neuester Erkenntnisse zum bilingualen Lehren und Lernen vertraut gemacht.
3. Didaktik und Methodik des bilingualen Unterrichts
Die Lehrerinnen und Lehrer in Ausbildung erwerben die Fähigkeit, bilingualen Unterricht zu planen und sachgerecht vorzubereiten. Sie erhalten praktische Hinweise zur Durchführung des bilingualen Unterrichts und können ihn einschließlich der Lehrerrolle in diesem Unterricht nach transparenten Kriterien beurteilen.
Unterrichtsplanung
Die Unterrichtsplanung orientiert sich grundsätzlich an den Prinzipien der Sachfachdidaktik. Für den Sachfachunterricht in der Fremdsprache von besonderer Bedeutung sind:
- Didaktische Reduktion wegen der besonderen Schwierigkeiten durch die Verwendung einer Fremdsprache
- Schülergemäßheit (z. B. bei der Auswahl von Beispielen, um das sprachliche Verständnis zu erleichtern)
- Analyse der impliziten sprachlichen Schwierigkeiten zur Vermittlung sachfachlicher Inhalte (z. B. um vorentlasten zu können oder geeignete Stützungsmöglichkeiten bereitzustellen)
- Gezielt eingesetzte Redundanz
- Fachwortschatz (auch kulturspezifischer Begriffe und deren unterschiedliche Bedeutung)
- Strukturierung und Ergebnissicherung
- Interkulturelles Lernen, z. B. durch Multiperspektivität
- Authentizität der Sprachverwendung
- Didaktisch-methodisch begründeter Einsatz der Basissprache (Code Switching)
- Vermittlung zielsprachiger Schlüsselqualifikationen, z. B. Diskurstüchtigkeit
- Präzisierung der sprachlichen Lernziele in Orientierung an den Intentionen des maßgeblichen Sachfachs
- Aufbereiten der im Unterricht einzusetzenden Zielsprache in Bezug auf Fachbegriffe durch entsprechende Informationsquellen
Methodische Entscheidungen und Unterrichtsdurchführung
Methodische Entscheidungen müssen sich, ausgehend von den Ergebnissen der Unterrichtsplanung und den Erkenntnissen der Spracherwerbstheorie, in besonderer Weise am Prinzip der Passung orientieren, d. h., es muss sichergestellt werden, dass die Schüler mit den vorhandenen sprachlichen Kompetenzen die vorgegebenen fachlichen Standards (z. B. kognitiv, affektiv, methodisch) erreichen können. Daraus ergibt sich:
- Besondere Bedeutung der Strategien zur Aufrechterhaltung und Förderung der Konzentration und Motivation
- Angemessenes Lerntempo
- Kontinuierliche und häufige Sicherung und Kontrolle von Teillernzielen, um wegen der erhöhten Schwierigkeit das Verständnis zu gewährleisten
- Angebot von Strukturierungshilfen
- inhaltlicher Art (Advance Organizer)
- sprachlicher Art (Wortlisten, -tabellen, Wortkarteikarten)
- Bereitstellung von Sprachmitteln zum funktionalen Gebrauch (auch zweisprachig)
Die Auswahl von Materialien und audio-visuellen Medien erfolgt u. a. unter Berücksichtigung folgender Grundsätze:
- Anschaulichkeit
- Aktivierung von Vorwissen
- Textsorten- und Medienvielfalt zu unterschiedlichen Codierungen von Information
- Besondere Bedeutung von rezeptiven Fertigkeiten (Hören und Lesen)
Das Erreichen der fachlichen Ziele wird darüber hinaus gesichert durch systematische Vermittlung und Training von Study Skills wie z. B.
- Verarbeitungsstrategien und –techniken (Lesestile: Skimming und Scanning)
- Techniken zur Erschließung (z. B. W-Fragen, Exzerpieren, Arbeiten mit dem Wörterbuch) und Strukturierung von Informationen (z. B. Illustrationen per Textstrukturdiagramm, Flussdiagramm, Mind Map, Outlining usw.)
- Sprachmittlungstechniken (Mediation, seltener Translation)
- Nachhaltiges Arbeiten (u. a. erreicht durch Prozessorientierung, intensive Einübung von Techniken, anhaltende Motiviertheit, Priorität des ganzheitlichen Verstehens
sowie die
- Einübung fachspezifischer Arbeitstechniken (z. B. Quelleninterpretation, Bildinterpretation, Interpretation von Cartoons, Karikaturen und Plakaten; Analyse von Statistiken (z. B. Tabellen, Diagramme) und Funktionsdarstellungen usw.)
Aus der Perspektive der Zielsprache sind folgende zentrale Elemente und Prinzipien für das unterrichtliche Handeln zu beachten:
- Wechsel von der Zielsprache zur Basissprache (Code Switching), wenn der Einsatz der Basissprache didaktisch-methodisch begründet ist, etwa durch
- Schnelle(re) und eindeutige(re) Semantisierung
- Sicherung der fachsprachlichen Kompetenz
- Auswertung basissprachlicher Materialien
- Äußerung emotionaler Betroffenheit
- Schaffung einer entspannten Lernatmosphäre
- Beachtung der Progression des Anforderungsniveaus in der Zielsprache: die Zielsprache soll behutsam zur Arbeitssprache werden, indem man von der Rezeption zur Produktion schreitet
- Vor allem im Anfangsunterricht ist ein stärkeres Gewicht auf die Rezeption zu empfehlen. Eine mögliche Überprüfung dieser Leistungsstufe kann durch Aufgabenstellungen wie Zusammenfassung oder Visualisierung von Textinhalten erfolgen
- Der Anteil der Fremdsprache im Unterricht sollte den der Basissprache überwiegen (anzustreben ist das Verhältnis Fremdsprache : Basissprache >= 70 : 30)
- Es ist vom Fachlehrer eine den Bedingungsfeldern und dem Unterrichtsstoff/-thema adäquate Fehlertoleranz anzuwenden. Eine ungezwungene und inhaltlich richtige, jedoch zielsprachlich fehlerhafte Schülerleistung ist zu akzeptieren (Meaning/Message before Accuracy). Eine Fehlerkorrektur sollte erfolgen, wenn der Inhalt einer Schüleraussage nicht mehr verständlich ist
- Die Fähigkeit zur selbstständigen Erstellung von Wortlisten seitens der Schüler soll gefördert werden
- Bei der Leistungsfeststellung gilt:
- Es ist grundsätzlich nur der Inhalt der vom Schüler gemachten Aussagen zu bewerten, jedoch wird die sachfachspezifische Terminologie in der Zielsprache erwartet
- Sprachliche Fehler können bei der Korrektur farblich hervorgehoben werden, sie werden jedoch nicht bewertet, solange die Verständlichkeit nicht beeinträchtigt ist
- Für gute Leistungen in der Zielsprache können Zusatzpunkte vergeben werden
- Aufgaben können in der Zielsprache und/oder der Basissprache angeboten werden und orientieren sich am aktuellen Modus der Abschlussprüfung im Sachfach und/oder der jeweiligen Schulart
- Bei der Gewichtung der mündlichen und schriftlichen Leistungen zur Feststellung der Halbjahres- oder Ganzjahresleistung orientiert sich der Lehrer an den Vorgehensweisen des Sachfachunterrichts
Lehrerrolle
Zielsprachenkompetenz
Dem im bilingualen Unterricht agierenden Fachlehrer kann eine gewisse Fehlertoleranz zugestanden werden. Gleichwohl sollten von ihm folgende Kriterien erfüllt werden:
- Der Fachlehrer sollte das Fachvokabular zum jeweiligen Thema in der Zielsprache beherrschen (Semantik, Phonetik/Phonologie; Orthographie) und unter Zuhilfenahme von Wörterbüchern (auch IPA) und sonstiger Fachliteratur vermitteln können
- Der Fachlehrer muss das Fachvokabular kontextgerecht verwenden können (z. B. für Vortrag, Erläuterungen)
- Beherrschung und Vermittlung themenbezogener Sprachmittel zur Bewältigung der Sprachfunktionen (z. B. Description, Explanation, Analysis, Evaluation …)
- Die Beherrschung der Phraseologie zur Unterrichtssteuerung in der Zielsprache (Classroom Phrases) wird vorausgesetzt
- Fähigkeit zur Erklärung von Strukturen aus dem Grundbereich der Grammatik (insbesondere grammatikalische Strukturen, die Interferenzquellen darstellen)
- Das vom Fachlehrer eingesetzte sprachliche Niveau sollte möglichst dem C1-Niveau des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechen
Fachliche Kompetenz
- Der erforderliche Kenntnisstand des Fachlehrers ergibt sich aus den Inhalten des aktuellen Lehrplans des Sachfaches
- Neue Entwicklungen sind im Unterricht zu berücksichtigen (z. B. Gesetzesänderungen, aktuelle Klimapolitik und deren Auswirkungen auf standortpolitische Entscheidungen)
Methodisch-Didaktische Kompetenz
- Vgl. Hinweise zu Punkt 3.1 Unterrichtsplanung und Punkt 3.2 Methodische Entscheidungen und Unterrichtsdurchführung
Erzieherische Kompetenz
- Vgl. Ausbildungsinhalte Pädagogik/Pädagogische Psychologie
- Abbau von Hemmungen im Einsatz der Zielsprache (Bewusstmachen, dass Fehler Teil des Lernens sind)
- Förderung von Multiperspektivität (Perspektivenwechsel) und Toleranz
- Erziehung zur Sensibilität und Aufgeschlossenheit für interkulturelle Aspekte
(Cross-Cultural Awareness)
Weitere Hinweise über die Organisation der Ausbildung zum Erwerb der Zusatzqualifikation gibt ein Merkblatt des Kultusministeriums Baden-Württemberg
Zum
Merkblatt bilingualer Unterricht Stand: März 2016